Michael Ende und die Kritik

Im August 1992 erscheint von Michael Ende der Erzählband Das Gefängnis der Freiheit. Jeder Erzählung liegt eine eigene Perspektive, eine spezielle Erzählweise und eine besondere stilistische Lösung zugrunde. Ein Jahr später, 1993, wird Die Vollmondlegende von der Künstlerin und Buchgestalterin Binette Schroeder illustriert und zu einem großformatigen Bilderbuch gestaltet. In diesem Jahr überschreitet die Gesamtauflage der Bücher von Michael Ende die 15-Millionen-Grenze. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist er von den Literaturpäpsten im Lande ignoriert worden. Seine an ein erwachsenes Publikum gerichteten Werke werden in der Regel auf der Kinderbuchseite rezensiert. Michael Ende erklärt sich das so: "Man darf von jeder Tür aus in den literarischen Salon treten: aus der Gefängnistür, aus der Irrenhaustür oder aus der Bordelltür. Nur aus einer Tür darf man nicht kommen, aus der Kinderzimmertür." Wenn die Literaturkritiker ihn überhaupt erwähnen, so sprechen sie mit "säuerlicher Miene vom 'Phänomen Ende'" , doch eine literarische Einschätzung der Werke bleibt aus.

Michael Ende öffnet sein Archiv und veröffentlicht 1994 das Buch Michael Endes Zettelkasten. Skizzen und Notizen, in dem Märchen und Essays, Betrachtungen und Gedichte abgedruckt sind. Zum ersten Mal bricht er mit der Tradition, persönliche Bezüge aus seinen Werken herauszuhalten, und spricht von sich und seinem Leben. Im Herbst erscheint der Sammelband Die Zauberschule und andere Geschichten, illustriert von Bernhard Oberdieck. Darin sind sämtliche Märchen für Kinder enthalten, die Michael Ende geschrieben hat.
Wenige Monate später wird in Dortmund der Hamelner Totentanz Der Rattenfänger mit der Musik von Wilfried Hiller uraufgeführt, wobei Giora Feidman mit seiner Solo-Klarinette den Rattenfänger spielt. Michael Ende besucht in den Monaten März und April mehrere Male die Proben. Weitere Aufführungen finden in den darauf folgenden Jahren in Hameln und Kiel statt. Zuvor ist das Libretto im Weitbrecht Verlag erschienen. Michael Ende gibt der vermutlich aus Südfrankreich stammenden klassischen Legende von dem Rattenfänger eine neue Deutung, indem er der Geschichte von der Kindesentführung das Bild des Rattenkönigs hinzufügt und die Handlung um die Geld-Thematik und die Figur des Geldscheißers erweitert.