Der Pagat: Gaukler und Magier

1976 schreibt Michael Ende Das Gauklermärchen als ein Zauberspiel für Puppen- oder Maskentheater. Das Stück bleibt zunächst unveröffentlicht.
In diesen noch von der Eskapismus-Debatte geprägten Jahren besitzen Figuren wie der Zirkusartist, der Clown oder vor allem der Seiltänzer für Michael Ende eine besondere Bedeutung. Den zahlreich erhobenen Forderungen nach Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion von Kunst und Literatur (indem sie beispielsweise erzieherische Aufgaben übernimmt) stellt Michael Ende als künstlerisches Kontrastprogramm die Gestalt des Zirkusartisten entgegen. Welchen Nutzen besitzt etwa ein Seiltänzer für die Gesellschaft, der jeden Abend von neuem sein Leben für ein paar Mark aufs Spiel setzt? Nicht praktischer Nutzen, sondern eine ganz andere Aufgabe fällt der Kunst zu. Das ist das große Thema des Theaterstücks, das in jenen Jahren entsteht: Das Gauklermärchen.
Jede Form von Spiel ist ein Miteinander; das trifft insbesondere auf eine Zirkusaufführung zu, der eine spezielle Kommunikationsform zugrunde liegt. Jedes Spiel setzt nicht allein mindestens zwei Personen voraus, sondern auch deren Absicht, gemeinsam das Spiel nach bestimmten Regeln zu spielen.

Spielregeln können nicht aufgezwungen, können allein freiwillig von den Teilnehmern akzeptiert werden: Für Michael Ende war das "Bewusstsein, dass wir gemeinsam Regeln erfinden, die es uns ermöglichen, miteinander in Kommunikation zu treten, miteinander etwas zu erleben, zu erfahren, was ohne diese Regeln gar nicht zustande kommen würde" , ein geheimnisvoller und zugleich großartiger Vorgang. Das sei das Grandiose am Menschen: "Indem er spielt, schafft er sich eine Welt, die er dann auch bewohnt" .
Ausgehend vom Zirkusartisten gerät zunehmend die Figur des Pagat in den Mittelpunkt seines künstlerischen Konzeptes. Der Begriff bezeichnet die erste Karte eines Tarot-Spiels und lebt in unseren Kartenspielen als Joker fort. Der Pagat hat üblicherweise auch die beiden Beinamen Der Gaukler und Der Magier.

Gerade dieser Doppelaspekt fasziniert Michael Ende zunehmend. Verkörpert der Gaukler das spielerische Prinzip jeder Kunst , das Menschen miteinander verbindet - Michael Ende hat es in reinster Form mit seinem Jim Knopf verwirklicht - so versinnbildlicht der Magier ein weiteres bestimmendes Moment von Kunst. Jeder schöpferische Mensch, jeder Künstler, stellt aus Michael Endes Sicht einen Magier dar, weil er aus dem Nichts Neues erschafft: fiktive Welten und Geschöpfe, Schicksale und Erlebnisse, aber auch neuartige Bedeutungen und Zusammenhänge. Der Gaukler ist der Könnende, der Magier der Erschaffende. Beides verbindet sich in dem Wesen des Pagat, dem Künstler par excellence.